Oliver
Pfohlmann
‘Eine
finster drohende und lockende
Nachbarmacht’?
Abstract Psychoanalytische
Literaturwissenschaft ist bis heute umstritten. Da bislang umfassendere
empirische Untersuchungen ihrer Praxis fehlten, unterlagen Einwände zwangsläufig
dem Verdacht, es handle sich bei ihnen um pauschalisierende Vorurteile oder
psychologiefeindliche Ressentiments. Die vorliegende Arbeit untersucht im
Gegensatz zu den die Psychoanalyse pauschal verurteilenden Kritikern und auch im
Gegensatz zu den sich häufig durch Selbstimmunisierung unangreifbar machenden
Analytikern die Praxis dieser literaturtheoretischen Richtung
wissenschaftsanalytisch und orientiert sich dabei am systemtheoretischen Konzept
einer „Beobachtung zweiter Ordnung“. Als Untersuchungsgegenstand dienten die
bislang vorliegenden über 75 psychoanalytischen Deutungen zu Leben und Werk
Robert Musils. An ihrem Beispiel will die vorliegende Arbeit die Entwicklung, die Arbeits- und Vorgehensweisen, die Leistungsfähigkeit, Charakteristiken, Problematiken, Vorzüge und Defizite psychoanalytischer Literaturwissenschaft – von den orthodox-freudianischen Anfängen bis zu neueren strukturalen, poststrukturalen und feministischen Konzepten – in der Auseinandersetzung mit einem Schriftsteller der literarischen Moderne deutlich machen, um so Beiträge zu einer Kritik der psychoanalytischen Literaturwissenschaft zu geben. Fokussiert werden die neuralgischen Punkte der Literaturanalyse: etwa die Analyse von (fiktiven) Figuren, die Behandlung der ästhetischen Form oder der Umgang von Psychoanalytikern mit dem (nachweislich vorhandenen) psychoanalytischen Wissen des Autors Robert Musil. Als Maßstäbe und Prüfsteine zur Kritik der literaturanalytischen Praxis dienen neben dem theoretischen Potenzial der psychoanalytischen Literaturwissenschaft vor allem das Reflexionsniveau des analysierten Autors und seiner poetologischen und literarischen Texte sowie die Einsichten und das Wissen anderer literaturtheoretischer und -historischer Richtungen. Nur zum Teil bestätigen die Resultate und Beobachtungen der Untersuchungen, die weder zu einer Generalverurteilung noch zu einer Apologie der Literaturanalyse Anlass geben, die bekannten Einwände, die bis heute, etwa von philologischer Seite, gegen die Literaturanalyse erhoben werden: Diese kann mehr, als ihre Gegner ihr zugestehen. Ebenso aber stehen die Ergebnisse im Widerspruch zu den Selbstbeschreibungen psychoanalytisch orientierter Literaturwissenschaftler: Die Praxis der Literaturanalyse sieht häufig genug anders aus als in den Darstellungen ihrer Theoretiker. Eine gemeinsame Grundproblematik vieler Literaturanalysen ist dabei, dass sie häufig noch immer Argumentations- und Deutungsmustern folgen, wie sie von Freud um 1900 aus erkennbar strategischen Gründen geprägt wurden. Mit der Folge, dass sich die untersuchten Analysen allzu oft durch eine erstaunliche historische Naivität auszeichnen, sich blind stellen gegenüber bekannten Zusammenhängen der Entstehung der Psychoanalyse und der literarischen Moderne. Dem entspricht, dass viele dieser Arbeiten nur vordergründig literaturwissenschaftliche Erkenntnis zu erzielen suchen, sondern tatsächlich ihre eigene Praxis, durch diese Praxis, zu legitimieren versuchen. Die
vorliegenden Untersuchungen wollen bewusster machen, was Literaturanalytiker
tun, wenn sie psychologisches oder psychoanalytisches Wissen in
literaturwissenschaftliche Forschung integrieren. Als „Beobachtungen zweiter
Ordnung“ haben sie Anteil an jenen Prozessen, in denen das System
literaturwissenschaftlicher Forschung sich selbst beobachtet.
Kurzresümee Inhaltsverzeichnis Analytisches Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis Vorwort
Kurzresümee Inhaltsverzeichnis Analytisches Inhaltsverzeichnis
Analytisches Inhaltsverzeichnis Vorwort
Psychoanalytische
Literaturwissenschaft ♦ Berechtigte Einwände oder psychologiefeindliche
Ressentiments? ♦ Zielsetzung der Untersuchung ♦ Stand der Forschung
♦ Musil und die Psychoanalyse – die Psychoanalyse und Musil ♦ Das
Untersuchungsmaterial ♦ Aufbau der Arbeit ♦ Dank I. Eröffnung: Wissenschaft und
Literatur bei Sigmund Freud
‘Würdig
dem Andenken Goethes’ ♦ Bundesgenosse oder Analysand? ♦ Freuds ‘literarischer
Komplex’ ♦ ‘Krankengeschichten, die wie Novellen zu lesen sind’
♦ Eine ‘bildliche Ausdrucksweise’ ♦ ‘Worte, Worte und wiederum
Worte’ ♦ Die Herkunft des Wissens ♦ ‚Doppelgängerscheu’
♦ Dichterische Regungen ♦ Das ‘szientistische
Selbstmißverständnis’ ♦ Das Primat der Wissenschaft II. Mittelspiel: Untersuchungen zu
psychoanalytischen Musil-Deutungen
1.
Suchlogiken oder Anything goes?
Vorbemerkung
♦ Triebtheorie und Ödipuskomplex (Freud) ♦ Triebtheoretisch
orientierte Musil-Deutungen ♦ Psychoanalytische Symboldeutung (Freud)
♦ Symbolbezogene Musil-Deutungen ♦ Die Archetypenlehre der
analytischen Psychologie (C.G. Jung) ♦ An der Archetypenlehre orientierte
Musil-Deutungen ♦ Narzißmustheorien (Klein, Chasseguet-Smirgels,
Kohut)
♦ Narzißmustheoretisch orientierte Musil-Deutungen ♦ Strukturale
Analyse (Lacan) ♦ Struktural-analytisch orientierte Musil-Deutungen
♦ Feministische Literaturanalyse und Musil ♦ Beobachtungen und
Ergebnisse 2.
Funktionen von Literaturanalysen Der Analytiker und der Dichter ♦ Das Kooperationsmodell: der Dichter als Bundesgenosse ♦ Das Therapiemodell: der Dichter als Neurotiker ♦ Musil-Deutungen nach dem Therapiemodell ♦ Reanimierungen des Kooperationsmodells in der Gegenwart ♦ Robert Musil als Bundesgenosse Kohuts und Lacans ♦ Alternativen: das Diskursmodell und das Literaturmodell ♦ Verhältnisse zwischen den vier Modellen ♦ Musil-Deutungen nach dem Diskursmodell ♦ Musil-Deutungen nach dem Literaturmodell ♦ Kombinationen und Hybridformen ♦ Kombination 1: Kooperations- und Therapiemodell ♦ Kombination 2: Kooperations-, Diskurs- und Literaturmodell ♦ Beobachtungen und Ergebnisse 3.
Die Analyse literarischer Figuren Tränen wegen Druckerschwärze? ♦ ‘Als wäre sie eine lebende Person’ ♦ ‘Die Naivität eines Affen’? ♦ Der tagträumende Dichter und seine Partial-Ichs ♦ Ulrich – ein Fall narzißtischer Persönlichkeitsstörung? ♦ Nomenklatorische und explanatorische Aussagen ♦ Ulrichs ‘intensive Berührungsangst’ ♦ Überzeichnungen aufgrund lückenhafter Informationslage ♦ Pantoffelhelden oder: Musils Ironie und der Ernst des Analytikers ♦ Krankengeschichten in literarischem Gewand? ♦ Die Figur als Phantasieprodukt ♦ Die Figur ist so, weil der Autor so ist ♦ Der Autor ist so, weil die Figur so ist ♦ Wessen Anima? ♦ Mit Freuds Werken auf dem Schreibtisch? ♦ Musils ‘Buchmenschen’ ♦ Selbstreferentielles Erzählen ♦ Semiotisch-diskursanalytisch orientierte Alternativen ♦ Beobachtungen und Ergebnisse 4.
Psychoanalyse der literarischen Form ‘Die Banausie feinsinniger Ärzte’ ♦ Bestechung, Ablenkung, Beruhigung ♦ Musils Vereinigungen oder: Die Form als Störfaktor ♦ Musils Stil als äquivalentes Darstellungsmittel ♦ Musils Stil als verschleiernde Rückübersetzung ♦ Musils Stil als Imitation der Freudschen Arbeitsweise ♦ Depotenzierung der Form als Abwehr? ♦ Neue Ansätze zur Formanalyse (Pietzcker, Chasseguet-Smirgel) ♦ Koinzidenzen und Divergenzen von Inhalt und Form ♦ Die Strukturale Analyse als Via regia zur Analyse der Form? ♦ V – Musils Signifikant ♦ Zwischenresümee ♦ ‘Die exakte Herausarbeitung eines Gedankens’ ♦ Pathophile Ästhetik der literarischen Moderne ♦ Wien: Porta Orientis des Unbewußten ♦ Musil – ein preadaptive advancer neoanalytischer Theoriebildung? ♦ Ein Primat der Form? ♦ Beobachtungen und Ergebnisse 5.
Rezeptionsanalyse – Der Blick auf den Leser Kunstrezeption
als Proto-Analyse ♦ Kunstrezeption als ‘anderer Zustand’ ♦
Selbstkontrolle durch Gegenübertragungsanalyse? ♦ Unbewußte
Disambiguierung ♦ Freisetzung von Leserlibido ♦ Sexuelle Literatur
und prüde Literaturwissenschaft ♦ Lesen als Kommunion? ♦
Poststrukturalistische Auswege aus literaturwissenschaftlichen Aporien ♦
Beobachtungen und Ergebnisse 6.
Psychoanalytiker als Literaturkritiker – Pathologisierung und Wertung in
Literaturanalysen Wertfreie
Literaturanalyse? ♦ Theorie der literarischen Wertung ♦ Kooperative
Aufwertungen ♦ ‚Übereinstimmung mit der Theorie’ als Maßstab ♦
Medizinische Argumentation und ästhetische und ethische Normen ♦ Dichtung
und Neurose ♦ Krankhafte Arbeitsstörungen? ♦ Therapeutische
Abwertungen ♦ Denunzierung des Künstlers und Romantisierung des Kranken
♦ Ab- und Aufwertungen formalästhetischer Eigentümlichkeiten ♦ ‘Anderer
Zustand’ und ‘Ozeanisches Erleben’ ♦ Der ‘andere Zustand’ als
Regression ♦ Kranke Figur, gesunder Autor ♦ Regression oder
Progression? ♦ Beobachtungen und Ergebnisse
7.
Literaturanalyse als Konstruktion 7.1
Kleine psychoanalytische Epistemologie ♦ Ein
fruchtbares Junktim zwischen Heilen und Forschen ♦ Freud als
Konstruktivist ♦ Literaturanalyse als sinnstiftender Vorschlag ♦
Alles ist konstruiert – aber wie? ♦ 7.2
Problematiken autororientierter Musil-Deutungen ♦ Robert Musil auf der
Couch ♦ ‘Transsubstantiation’ oder biographischer Reduktionismus?
♦ Fiktiv, nicht fiktiv? (am Beispiel Tonka-Herma Dietz) ♦ Essayismus
und Dissemination ♦
7.3 Musils Rezeption der Psychoanalyse im Untersuchungsmaterial ♦
Psychoanalyse der literarischen Moderne ♦ Strategie 1: Ignorierung
♦ Strategie 2: Leugnung ♦ Strategie 3: Die Psychoanalyse der
Psychoanalyse-Rezeption ♦ Das Beispiel Corino ♦ Das Beispiel
Cremerius ♦ Cremerius und die Folgen – ein fatales Paradigma für die
Forschung ♦ Strategie 4: Desinteresse ♦ Strategie 5: Thematisierung
♦ Vom Blick der Medusa ♦ 7.4 Bewußt oder unbewußt? ♦ Wo Es war, soll niemals Ich sein
♦ Über das Kryptische an ‘Kryptozitaten’ ♦ Textanomalien als
unbewußt entstandene Kompromißbildungen? ♦ Musil, das Unbewußte, das
Schreiben, die Sexualität ♦ Folgerungen für die Literaturanalyse III. Endspiel: Literatur und
Wissenschaft bei Robert Musil
1. Zwischen
Wahrheit und Möglichkeit ♦ Ein
Beinahe-Quereinsteiger ♦ ‘Man nennt mich einen Psychologen. Ich bin es
nicht.’ ♦ Auf- und Abwertung der „Psychologie“ in der
Literaturkritik ♦ Die Verwirrungen des Dichters Musil ♦ Eine ‘gefährlich
drohende und lockende Nachbarmacht’ ♦ Die Entdeckung der Oberfläche
♦ Psychologie für den Unterbau ♦ Der ‚Ekel am Erzählen’
♦ Vom begriffsarmen zum begriffsstarken Menschen ♦ Abreaktion versus
Energieerhaltung: Freud oder Robert Mayer? ♦ Das Prinzip der motivierten
Schritte ♦ ‘Bilder als Knochenbau und Bedeutungsträger’ ♦
Gebietsansprüche und Conquistadorenträume ♦ Von der Wahrheit zur
Möglichkeit ♦ 2.
Musils Einstellung zur Psychoanalyse ♦ Stabilisierte Ambivalenz oder
differenzierte Kritik? ♦ Kritik an der psychoanalytischen Ästhetik
♦ Kritik an der Psychoanalyse als Gesellschaftsphänomen ♦ Kritik am
Geltungsanspruch der Psychoanalyse ♦ Kritik an psychoanalytischen
Theoremen ♦ Lob der Analyse ♦ Phasen von Musils
Psychoanalyse-Rezeption ♦ 3.
Supplement ♦ Versuch einer Vogelschau ♦ Literatur und
Psychologie aus kultursemiotischer Perspektive ♦ Literatur und Psychologie
aus systemtheoretischer Perspektive ♦ Die Frage des Jahrhunderts Schlußwort
Anhang: Das Untersuchungsmaterial
Literaturverzeichnis
Rezensionen
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