Oliver Pfohlmann  

‘Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht’?
Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen 
am Beispiel von Robert Musil

München: Wilhelm Fink Verlag 2003 (Musil-Studien, Bd. 32)
 470 Seiten; 50,- EUR; ISBN 3-770-53775-0

 

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Abstract

Psychoanalytische Literaturwissenschaft ist bis heute umstritten. Da bislang umfassendere empirische Untersuchungen ihrer Praxis fehlten, unterlagen Einwände zwangsläufig dem Verdacht, es handle sich bei ihnen um pauschalisierende Vorurteile oder psychologiefeindliche Ressentiments. Die vorliegende Arbeit untersucht im Gegensatz zu den die Psychoanalyse pauschal verurteilenden Kritikern und auch im Gegensatz zu den sich häufig durch Selbstimmunisierung unangreifbar machenden Analytikern die Praxis dieser literaturtheoretischen Richtung wissenschaftsanalytisch und orientiert sich dabei am systemtheoretischen Konzept einer „Beobachtung zweiter Ordnung“. Als Untersuchungsgegenstand dienten die bislang vorliegenden über 75 psychoanalytischen Deutungen zu Leben und Werk Robert Musils.

An ihrem Beispiel will die vorliegende Arbeit die Entwicklung, die Arbeits- und Vorgehensweisen, die Leistungsfähigkeit, Charakteristiken, Problematiken, Vorzüge und Defizite psychoanalytischer Literaturwissenschaft – von den orthodox-freudianischen Anfängen bis zu neueren strukturalen, poststrukturalen und feministischen Konzepten – in der Auseinandersetzung mit einem Schriftsteller der literarischen Moderne deutlich machen, um so Beiträge zu einer Kritik der psychoanalytischen Literaturwissenschaft zu geben. Fokussiert werden die neuralgischen Punkte der Literaturanalyse: etwa die Analyse von (fiktiven) Figuren, die Behandlung der ästhetischen Form oder der Umgang von Psychoanalytikern mit dem (nachweislich vorhandenen) psychoanalytischen Wissen des Autors Robert Musil. Als Maßstäbe und Prüfsteine zur Kritik der literaturanalytischen Praxis dienen neben dem theoretischen Potenzial der psychoanalytischen Literaturwissenschaft vor allem das Reflexionsniveau des analysierten Autors und seiner poetologischen und literarischen Texte sowie die Einsichten und das Wissen anderer literaturtheoretischer und -historischer Richtungen.

Nur zum Teil bestätigen die Resultate und Beobachtungen der Untersuchungen, die weder zu einer Generalverurteilung noch zu einer Apologie der Literaturanalyse Anlass geben, die bekannten Einwände, die bis heute, etwa von philologischer Seite, gegen die Literaturanalyse erhoben werden: Diese kann mehr, als ihre Gegner ihr zugestehen. Ebenso aber stehen die Ergebnisse im Widerspruch zu den Selbstbeschreibungen psychoanalytisch orientierter Literaturwissenschaftler: Die Praxis der Literaturanalyse sieht häufig genug anders aus als in den Darstellungen ihrer Theoretiker. Eine gemeinsame Grundproblematik vieler Literaturanalysen ist dabei, dass sie häufig noch immer Argumentations- und Deutungsmustern folgen, wie sie von Freud um 1900 aus erkennbar strategischen Gründen geprägt wurden. Mit der Folge, dass sich die untersuchten Analysen allzu oft durch eine erstaunliche historische Naivität auszeichnen, sich blind stellen gegenüber bekannten Zusammenhängen der Entstehung der Psychoanalyse und der literarischen Moderne. Dem entspricht, dass viele dieser Arbeiten nur vordergründig literaturwissenschaftliche Erkenntnis zu erzielen suchen, sondern tatsächlich ihre eigene Praxis, durch diese Praxis, zu legitimieren versuchen.

Die vorliegenden Untersuchungen wollen bewusster machen, was Literaturanalytiker tun, wenn sie psychologisches oder psychoanalytisches Wissen in literaturwissenschaftliche Forschung integrieren. Als „Beobachtungen zweiter Ordnung“ haben sie Anteil an jenen Prozessen, in denen das System literaturwissenschaftlicher Forschung sich selbst beobachtet.

 

 

Kurzresümee  Inhaltsverzeichnis   Analytisches Inhaltsverzeichnis

 

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
I. Eröffnung: Wissenschaft und Literatur bei Sigmund Freud
II. Mittelspiel: Untersuchungen zu psychoanalytischen Musil-Deutungen
1. Suchlogiken oder Anything goes?
2. Funktionen von Literaturanalysen
3. Die Analyse literarischer Figuren
4. Psychoanalyse der literarischen Form
5. Rezeptionsanalyse – Der Blick auf den Leser
6. Psychoanalytiker als Literaturkritiker – Pathologisierung und Wertung in Literaturanalysen 
7. Literaturanalyse als Konstruktion
III. Endspiel: Literatur und Wissenschaft bei Robert Musil
Schlußwort
Anhang: Das Untersuchungsmaterial
Literaturverzeichnis 

 

 

Kurzresümee  Inhaltsverzeichnis   Analytisches Inhaltsverzeichnis

 

 

Analytisches Inhaltsverzeichnis  

Vorwort

Psychoanalytische Literaturwissenschaft ♦ Berechtigte Einwände oder psychologiefeindliche Ressentiments? ♦ Zielsetzung der Untersuchung ♦ Stand der Forschung ♦ Musil und die Psychoanalyse – die Psychoanalyse und Musil ♦ Das Untersuchungsmaterial ♦ Aufbau der Arbeit ♦ Dank

I. Eröffnung: Wissenschaft und Literatur bei Sigmund Freud

‘Würdig dem Andenken Goethes’ ♦ Bundesgenosse oder Analysand? ♦ Freuds ‘literarischer Komplex’ ♦ ‘Krankengeschichten, die wie Novellen zu lesen sind’ ♦ Eine ‘bildliche Ausdrucksweise’ ♦ ‘Worte, Worte und wiederum Worte’ ♦ Die Herkunft des Wissens ♦ ‚Doppelgängerscheu’ ♦ Dichterische Regungen ♦ Das ‘szientistische Selbstmißverständnis’ ♦ Das Primat der Wissenschaft   

II. Mittelspiel: Untersuchungen zu psychoanalytischen Musil-Deutungen

1. Suchlogiken oder Anything goes?

Vorbemerkung ♦ Triebtheorie und Ödipuskomplex (Freud) ♦ Triebtheoretisch orientierte Musil-Deutungen ♦ Psychoanalytische Symboldeutung (Freud) ♦ Symbolbezogene Musil-Deutungen ♦ Die Archetypenlehre der analytischen Psychologie (C.G. Jung) ♦ An der Archetypenlehre orientierte Musil-Deutungen ♦ Narzißmustheorien (Klein, Chasseguet-Smirgels, Kohut) ♦ Narzißmustheoretisch orientierte Musil-Deutungen ♦ Strukturale Analyse (Lacan) ♦ Struktural-analytisch orientierte Musil-Deutungen ♦ Feministische Literaturanalyse und Musil ♦ Beobachtungen und Ergebnisse   

2. Funktionen von Literaturanalysen

Der Analytiker und der Dichter ♦ Das Kooperationsmodell: der Dichter als Bundesgenosse ♦ Das Therapiemodell: der Dichter als Neurotiker ♦ Musil-Deutungen nach dem Therapiemodell ♦ Reanimierungen des Kooperationsmodells in der Gegenwart ♦ Robert Musil als Bundesgenosse Kohuts und Lacans ♦ Alternativen: das Diskursmodell und das Literaturmodell ♦ Verhältnisse zwischen den vier Modellen ♦ Musil-Deutungen nach dem Diskursmodell ♦ Musil-Deutungen nach dem Literaturmodell ♦ Kombinationen und Hybridformen ♦ Kombination 1: Kooperations- und Therapiemodell ♦ Kombination 2: Kooperations-, Diskurs- und Literaturmodell ♦ Beobachtungen und Ergebnisse 

3. Die Analyse literarischer Figuren

Tränen wegen Druckerschwärze? ♦ ‘Als wäre sie eine lebende Person’ ♦ ‘Die Naivität eines Affen’? ♦ Der tagträumende Dichter und seine Partial-Ichs ♦ Ulrich – ein Fall narzißtischer Persönlichkeitsstörung? ♦ Nomenklatorische und explanatorische Aussagen ♦ Ulrichs ‘intensive Berührungsangst’ ♦ Überzeichnungen aufgrund lückenhafter Informationslage ♦ Pantoffelhelden oder: Musils Ironie und der Ernst des Analytikers ♦ Krankengeschichten in literarischem Gewand? ♦ Die Figur als Phantasieprodukt ♦ Die Figur ist so, weil der Autor so ist ♦ Der Autor ist so, weil die Figur so ist ♦ Wessen Anima? ♦ Mit Freuds Werken auf dem Schreibtisch? ♦ Musils ‘Buchmenschen’ ♦ Selbstreferentielles Erzählen ♦ Semiotisch-diskursanalytisch orientierte Alternativen ♦ Beobachtungen und Ergebnisse   

4. Psychoanalyse der literarischen Form

‘Die Banausie feinsinniger Ärzte’ ♦ Bestechung, Ablenkung, Beruhigung ♦ Musils Vereinigungen oder: Die Form als Störfaktor ♦ Musils Stil als äquivalentes Darstellungsmittel ♦ Musils Stil als verschleiernde Rückübersetzung ♦ Musils Stil als Imitation der Freudschen Arbeitsweise ♦ Depotenzierung der Form als Abwehr? ♦ Neue Ansätze zur Formanalyse (Pietzcker, Chasseguet-Smirgel) ♦ Koinzidenzen und Divergenzen von Inhalt und Form ♦ Die Strukturale Analyse als Via regia zur Analyse der Form? ♦ V – Musils Signifikant ♦ Zwischenresümee ♦ ‘Die exakte Herausarbeitung eines Gedankens’ ♦ Pathophile Ästhetik der literarischen Moderne ♦ Wien: Porta Orientis des Unbewußten ♦ Musil – ein preadaptive advancer neoanalytischer Theoriebildung? ♦ Ein Primat der Form? ♦ Beobachtungen und Ergebnisse 

5. Rezeptionsanalyse – Der Blick auf den Leser

Kunstrezeption als Proto-Analyse ♦ Kunstrezeption als ‘anderer Zustand’ ♦ Selbstkontrolle durch Gegenübertragungsanalyse? ♦ Unbewußte Disambiguierung ♦ Freisetzung von Leserlibido ♦ Sexuelle Literatur und prüde Literaturwissenschaft ♦ Lesen als Kommunion? ♦ Poststrukturalistische Auswege aus literaturwissenschaftlichen Aporien ♦ Beobachtungen und Ergebnisse  

6. Psychoanalytiker als Literaturkritiker – Pathologisierung und Wertung in Literaturanalysen

Wertfreie Literaturanalyse? ♦ Theorie der literarischen Wertung ♦ Kooperative Aufwertungen ♦ ‚Übereinstimmung mit der Theorie’ als Maßstab ♦ Medizinische Argumentation und ästhetische und ethische Normen ♦ Dichtung und Neurose ♦ Krankhafte Arbeitsstörungen? ♦ Therapeutische Abwertungen ♦ Denunzierung des Künstlers und Romantisierung des Kranken ♦ Ab- und Aufwertungen formalästhetischer Eigentümlichkeiten ♦ ‘Anderer Zustand’ und ‘Ozeanisches Erleben’ ♦ Der ‘andere Zustand’ als Regression ♦ Kranke Figur, gesunder Autor  ♦ Regression oder Progression? ♦ Beobachtungen und Ergebnisse   

7. Literaturanalyse als Konstruktion 

7.1 Kleine psychoanalytische Epistemologie Ein fruchtbares Junktim zwischen Heilen und Forschen ♦ Freud als Konstruktivist ♦ Literaturanalyse als sinnstiftender Vorschlag ♦ Alles ist konstruiert – aber wie? ♦ 7.2 Problematiken autororientierter Musil-Deutungen ♦ Robert Musil auf der Couch ♦ ‘Transsubstantiation’ oder biographischer Reduktionismus? ♦ Fiktiv, nicht fiktiv? (am Beispiel Tonka-Herma Dietz) ♦ Essayismus und Dissemination ♦ 7.3 Musils Rezeption der Psychoanalyse im Untersuchungsmaterial ♦ Psychoanalyse der literarischen Moderne ♦ Strategie 1: Ignorierung ♦ Strategie 2: Leugnung ♦ Strategie 3: Die Psychoanalyse der Psychoanalyse-Rezeption ♦ Das Beispiel Corino ♦ Das Beispiel Cremerius ♦ Cremerius und die Folgen – ein fatales Paradigma für die Forschung ♦ Strategie 4: Desinteresse ♦ Strategie 5: Thematisierung ♦ Vom Blick der Medusa ♦ 7.4 Bewußt oder unbewußt? ♦ Wo Es war, soll niemals Ich sein ♦ Über das Kryptische an ‘Kryptozitaten’ ♦ Textanomalien als unbewußt entstandene Kompromißbildungen? ♦ Musil, das Unbewußte, das Schreiben, die Sexualität ♦ Folgerungen für die Literaturanalyse 

III. Endspiel: Literatur und Wissenschaft bei Robert Musil

1. Zwischen Wahrheit und Möglichkeit ♦ Ein Beinahe-Quereinsteiger ♦ ‘Man nennt mich einen Psychologen. Ich bin es nicht.’ ♦ Auf- und Abwertung der „Psychologie“ in der Literaturkritik ♦ Die Verwirrungen des Dichters Musil ♦ Eine ‘gefährlich drohende und lockende Nachbarmacht’ ♦ Die Entdeckung der Oberfläche ♦ Psychologie für den Unterbau ♦ Der ‚Ekel am Erzählen’ ♦ Vom begriffsarmen zum begriffsstarken Menschen ♦ Abreaktion versus Energieerhaltung: Freud oder Robert Mayer? ♦ Das Prinzip der motivierten Schritte ♦ ‘Bilder als Knochenbau und Bedeutungsträger’ ♦ Gebietsansprüche und Conquistadorenträume ♦ Von der Wahrheit zur Möglichkeit ♦ 2. Musils Einstellung zur Psychoanalyse ♦ Stabilisierte Ambivalenz oder differenzierte Kritik? ♦ Kritik an der psychoanalytischen Ästhetik ♦ Kritik an der Psychoanalyse als Gesellschaftsphänomen ♦ Kritik am Geltungsanspruch der Psychoanalyse ♦ Kritik an psychoanalytischen Theoremen ♦ Lob der Analyse ♦ Phasen von Musils Psychoanalyse-Rezeption ♦ 3. Supplement ♦ Versuch einer Vogelschau ♦ Literatur und Psychologie aus kultursemiotischer Perspektive ♦ Literatur und Psychologie aus systemtheoretischer Perspektive ♦ Die Frage des Jahrhunderts   

Schlußwort   

Anhang: Das Untersuchungsmaterial  

Literaturverzeichnis

 

Rezensionen

  • (Walter Fanta) IASL, 17.9.2005
    "Vor allem wegen seiner systematischen Art werte ich das ganze Buch als einen Meilenstein innerhalb der Musil-Philologie: es markiert den Übergang von monomanischen Einzelzugängen zu einer integralen Sicht auf das Werk Robert Musils, welche die Kontexte der Rezeption und des Diskurses in den Mittelpunkt stellen." 
    Zur vollständigen Rezension bei IASL

  • (Franka Marquardt) Freiburger literaturpsychologische Gespräche 23 (2004). S. 191-194.
    "Oliver Pfohlmann hat auf sachlich fundierte, methodisch reflektierte, angenehm nüchterne und dabei durchaus unterhaltsame Weise zur Klärung jener schicksalhaften Dreiecksbeziehung zwischen Literatur, Literaturwissenschaft und Psychoanalyse Grundlegendes beigetragen. (...) Dass Oliver Pfohlmann aber auch weiteren 'Selbstbeobachtungen' der Literaturwissenschaft in ihren vielen anderen 'Beziehungsgeschichten' den methodischen Weg gewiesen hat, macht seine Studie auch über Robert Musil und die Psychoanalyse hinaus so besonders wertvoll."